Nick Harkaway: Die Gelöschte Welt

Dienstag, 14.10.2014, 22:29 > daMax

Im Moment lese ich gerade zum zweiten Mal den Roman "Die gelöschte Welt" von Nick Harkaway (Trivia-Fact am Rande: Nick ist der 4. Sohn des Autors John le Carré) und zum zweiten Mal gefällt er mir ausgesprochen gut (wer den Roman lesen will sollte nicht den Fehler begehen, bei Wikipedia reinzuschauen, denn da wird alles kurz und klein gespoilert. Verdammte Nerds!). Eingebettet in eine spannende Rahmenhandlung aus Sci-Fi, Fantasy, Karate Kid und Entwicklungsroman verbirgt sich in diesem teils absichtlich flapsig geschriebenen Buch eine gehörige Portion Gesellschafts-, Hierarchie- und Kapitalismuskritik und deshalb finde ich das Buch so toll wie ich es eben finde. Beim zweiten Mal liest es sich etwas anders, weil man den Plottwist (den ich natürlich nicht verraten werde) schon kennt, aber das tut dem Lesevergnügen keinen Abbruch. Wahrscheinlich wird mir demnächst ein Copyrighttrollbot eine Take-Down-Notiz zukommen lassen, aber wer nicht wagt der nicht gewinnt und deshalb tippsele ich euch jetzt ein längliches Zitat ab, das wunderbar aufzeigt, warum ich das Buch so toll finde. Der Kenner erkennt eine ausführliche Erklärung des SNAFU-Prinzips und gegen Ende liest sich das Ganze wie eine Zustandsbeschreibung wahlweise der amerikanischen oder der deutschen Regierung.

   »Pont«, sagt Crispin Horton, »ich möchte mit Ihnen einen sokratischen Dialog anregen, der in einem kurzen Exkurs seinen Höhepunkt finden könnte.«
   »Oh, alles klar«, sagt Pont bereitwillig. Er legt das Datenblatt weg, das er gerade zu seinem persönlichen Vergnügen gelesen hat, und spitzt die Ohren. Wie mein neuer Freund Crispin Horton erinnert auch Pont an einen Kleinsäuger. Im Gegensatz zu Crispin Horton scheint er aber kein nachtaktives Tier zu sein. Er blinzelt, reibt sich mit gewölbter Hand die Nase und zeigt, dass es seinetwegen losgehen kann.
   »Hobbes [der politische Denker, nicht der niedliche Cartoontiger] vertrat die Ansicht, der Krieg sei der natürliche Zustand der Menschheit. Was sagen Sie dazu?«
   »Ich sage, er war ein pessimistischer alter Arsch, der einen Sprung in der Schüssel hatte, weil er eine allmächtige Regierung für notwendig hielt.«
   »Pont...«
   »Schon gut, schon gut. Ganz abwegig ist diese Position natürlich nicht. Fahren Sie fort.«

   »Ich sollte entzückt sein. So entsteht ein Staat, dessen erste Pflicht darin besteht, die Menschen davon abzuhalten, übereinander herzufallen, ja?«
   »Hrmpffft.«
   »Ich nehme das mal als Zustimmung. Unterscheiden sich nun diejenigen, denen die Regierungsgeschäfte obliegen, in ihrem Wesen irgendwie von denen, die sie regieren?«
   »Ja. Sie sind hochmütig und neigen zu sexuellen Ausschweifungen. Außerdem wird man irre, wenn man in der Regierung sitzt.«
   »Aber sind sie tugendhafter oder intelligenter? Leidenschaftlicher?«
   »Ha!«
   »Das nehme ich mal als Nein. Um die Bevölkerung vor den eigenen Regierenden zu schützen, muss das Gesetz universell sein. Noch mehr, es muss von denen, die zu Herrschern ernannt werden, ein transparentes und konsistentes Verhalten fordern. Daher dürfen die Herrscher nicht als Individuen, sondern müssen als Anwender der vollkommenen Gerechtigkeit funktionieren, als willige Mitwirkende (ich benutze hier den Begriff ›willig‹ im Sinne einer beabsichtigten und bewussten Teilhabe im Gegensatz zu bloßer Hinnahme) einer Maschine, die gut regiert. Persönliche Belange sind hintanzustellen, damit nicht die ganze Struktur durch privi lege, durch private Gesetze, kompromittiert wird. Wir reden über eine Regierungsmaschine, ja?«
   »Ich hoffe, Sie kommen bald zur Sache, Crispin, denn ich muss einen Stapel aufregender Berichte über Kaliumankäufe durchsehen.«
   »Vertrauen Sie mir, tapferer Pont. Bald bin ich am Ziel.«
   »Dann machen Sie mal weiter.«
   »So ein Mechanismus kann nicht ohne akkurate Informationen funktionieren. Offensichtlich muss bei jeder Unvollkommenheit des Eingangs in gleichem Ausmaß auch der Ausgang fehlerhaft sein, multipliziert allerdings mit den anderen zugehörigen Fehlinformationen, die bereits vorliegen, und verstärkt durch die der Konstruktion selbst innewohnenden Verzerrungen (da es nach den Gesetzen der Thermodynamik unmöglich ist, eine Maschine zu bauen, die ihren Aufgaben ohne Energieverlust nachkommt). Da diese Maschine auf der Ebene von Informationen arbeitet, wird dieser Verlust an Genauigkeit keine Abwärme, sondern Absurditäten produzieren. Einverstanden?«
   »Müll rein, Müll raus. Oder höflicher ausgedrückt: Der Baum des Unfugs wird mit dem Irrtum gewässert, und an seinen Zweigen reifen die Kürbisse der Katastrophe.«
   »Oh, mein lieber Pont, wie treffend!«
   »Kaliumaufkäufe sind so ungeheuer aufregend, Crispin, dass ich mich ab und zu mit ein wenig harter, kreativer Arbeit auf den Boden der Tatsachen zurückholen muss. Bitte fahren Sie fort.«
   Crispin Horton nickt. »Um es zu wiederholen: Es ist möglich, eine Regierungsmaschine mit vernünftigen Informationen zu füttern, das Ding von gewöhnlichen, braven Menschen bedienen zu lassen und ihm einen vernünftigen Platz im System zuzuweisen, um am Ende dennoch etwas Idiotisches herauszubekommen.«
   »Das ist mehr als nur wahrscheinlich. Es ist ... zu erwarten.«
   »Dann wollen wir einen konkreten hypothetischen Fall betrachten. Nehmen wir an, die Maschine sucht nach Feinden innerhalb der eigenen Bevölkerung.«
   »Nun, es ist ganz unvermeidlich, dass eine Regierung tatsächlich Feinde hat. Sie ist ungerecht, also werden sich die Leute gegen sie auflehnen. Die Frage ist nur, wie sie diese Feinde wahrnimmt. Anfangs wird sie die Feinde vielleicht als legitime Opposition einordnen, weil so etwas vorgesehen ist. Aber jedes Mal, wenn sie die Feinde beobachtet, wird die schon bei der letzten Untersuchung festgestellte Neigung zu möglichen kriminellen Aktivitäten stärker in Erscheinung treten.«
   »Etwas einfacher ausgedrückt?«
   »Es ist, als würde man ein Foto von einem Foto von einem Foto machen. Was wirklich darauf abgebildet ist, wird jedes Mal undeutlicher dargestellt. Gesichter verschwimmen, und irgendwann ist alles eine Frage der Interpretation - aber die Interpretation wird von Leuten vorgenommen, deren Aufgabe es ist, nach Gefahren zu suchen. Deshalb werden sie sich lieber zur sicheren Seite hin irren. Am Ende ist das Foto eines Kindergeburtstags das verschwommene Bild eines Waffengeschäfts. Das verpixelte Gesicht von Guthrie Jones, dem Luftballonmodelliermeister in der Kategorie der unter Neunjährigen, verwandelt sich in das alte Gesicht von Angela Hedergast, der berüchtigten Uranschieberin. Jede Untersuchung derselben Zusammenhänge erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass etwas Erschreckendes gefunden wird - oder vielmehr etwas, das für erschreckend gehalten wird. Am Ende ist dann allein schon die Tatsache, dass jemand elfmal überprüft worden ist, ein Verdachtsmoment.«
   »Was wird deshalb mit der Zahl der vermuteten Feinde des Volkes geschehen?«
   »Sie wird explodieren. Die Regierungsmaschine betrachtet sich dabei jedoch nur selbst im Spiegel und untersucht das Abbild ihrer eigenen Schwächen.«
   »Was wäre dann praktisch gesprochen die letzte Konsequenz?«
   »Am Ende haben Sie eine Maschine, die weiß, dass schon den vorsichtigsten Schätzungen nach ringsherum und in ihrem Innern ungeheuer viele schreckliche Feinde lauern, die sie aber nicht finden kann. Daraus folgert sie, dass es sich um gut getarnte und gut ausgebildete Feinde handelt, etwa um professionelle Agitatoren und Terroristen. Deshalb müssen strengere und tiefer greifende Ermittlungsmethoden eingeführt werden. Wer auch nur geringfügig abweicht oder wer auch nur im leisesten Verdacht steht, muss als schrecklicher Feind behandelt werden. Viele gewöhnliche Leute werden wiederholt und immer wieder schärfer überprüft, bis die Regierungsmaschine entweder auf Feinde stößt oder bis jemand, der hoch genug steht, den Kurs ändert ... die Leute, die unter die Lupe genommen werden, sind aber eigentlich nur Positionen im numerischen Modell der Maschine. Kurz und gut, unschuldige Leute werden wie erfindungsreiche, bösartige Schwerverbrecher behandelt, weil zwischen den Zahlen Lücken klaffen. Die Lücken in den Statistiken werden gefüllt mit ... oh. Crispin?«
   »Pont.«
   »Haben Sie diesen ganzen Tanz hier etwa aufgeführt, nur im eine Erklärung dafür zu bekommen, was ein statistischer Blindgänger ist, weil einer Ihrer Kumpel einen verschlüsselten Anhang hat?«
   »Unsere kleinen Plaudereien machen mit immer Spaß.«
   Pont seufzt schwer.