Buchtipp: Glashaus von Charles Stross

Sonntag, 29.5.2016, 12:01 > daMax

glashausGute Science-Fiction-Romane sind bekanntlich rar. Vor einiger Zeit habe ich eine Liste meiner liebsten SF-Bücher zusammengestellt, die ich gerade um einen Roman erweitert habe. Zwar bin ich erst knapp bei der Hälfte, aber ich kann schon jetzt sagen, dass ich mich lange nicht mehr so gut mit einem Buch amüsiert habe.

Glashaus ist die Fortsetzung von Accelerando, das ich vor Ewigkeiten mal gelesen habe, an das ich mich jedoch ü-ber-haupt nicht mehr erinnern kann. Das macht zum Glück gar nix, denn auch die Hauptfigur kann sich nicht mehr an ihre eigene Vorgeschichte erinnern. Aber der Reihe nach.

Vorsicht: dieser Artikel enthält milde Spoiler. Wer das Buch völlig ohne Vorwissen genießen will, sollte jetzt mit dem Lesen aufhören.

Der Protagonist des Romans heißt Robin und wacht in einer Rehabilitationseinrichtung auf. Wie sich herausstellt, hat er sich Teile seines Gedächtnisses entfernen lassen und weiß jetzt selber nicht mehr so genau, wer er eigentlich ist und warum er sich dieser Prozedur unterzogen hat. Der Roman geht gleich von Anfang an in die Vollen und konfrontiert uns in kürzester Zeit mit Dingen wie T-Toren (zu Portalen gezähmte Wurmlöcher), A-Toren (auf atomarem Level operierende 3D-Drucker), einer sexuell sehr freizügigen Gesellschaft, modifizierten Körpern und vielem mehr. All das nur, um ein Bühnenbild für die nun folgende Handlung aufzustellen.

Wie sich herausstellt, trachten Robin ein paar finstere Gestalten nach dem Leben und so sucht er nach einer Möglichkeit, möglichst effektiv unterzutauchen. Diese findet er in einem Experiment, das Historienforscher gerade anstellen. Dabei handelt es sich um ein in sich geschlossenes Habitat, in dem ein ein künstliches 20. Jahrhundert geschaffen wurde, anhand dessen die Forscher herausfinden wollen, wie die Menschen damals gelebt haben. Schwarzwaldhaus 1900 meets The Truman Show to the extreme. Es geht damit los, dass die Teilnehmer|innen einen neuen Körper verpasst bekommen und so findet sich der ehemalige Söldner Robin nun im Körper einer recht zierlichen Frau wieder und muss nun versuchen, mit den Sitten und Gebräuchen des 20. Jahrhunderts zurecht zu kommen.

Und hier fängt der Roman an, wirklich Spaß zu machen, weil er ein schonungsloses Bild unserer völlig depperten Gesellschaft zeichnet. Zum Beispiel so:

Die Pfarrkirche entpuppt sich als großes Steingebäude in einiger Entfernung von unserem Haus. An einer Seite hat sie einen Turm, der so spitz und achsensymmetrisch wie ein relativistischer Marschflugkörper aussieht (wenn Kriegsschiffe aus Stein bestehen würden, hinten Löcher hineingebohrt wären und drinnen riesige parabolische Glocken hingen). Bei unserer Ankunft bimmeln die Glocken laut, während sich der Parkplatz mit Taxis und Männern und Frauen in zeitgemäßer Kleidung füllt.
[...]
»Liebe Gemeindemitglieder, wir sind heute hier versammelt, um jener zu gedenken, die vor uns von dieser Welt gegangen sind - erstarrte, in Stein gemeißelte Gesichter, die Gesichter vieler Generationen.« Als er innehält, wiederholt jeder ringsum seine letzten Worte. Es ist ein leises, gemurmeltes Echo, das sich ewig hinzuziehen scheint. Mit wachsendem Tempo und in salbungsvollem Ton setzt Fiore seinen Sermon fort. Alle ein, zwei Sätze hält er inne, damit die Gemeinde seine Worte wiederholt. Ich hoffe, dass es nur Geschwall ist, denn manchmal sind die Worte nicht nur rätselhaft, sondern enthalten auch vage Drohungen, erinnern daran, dass wir nach unserem Tod gerichtet, für unsere Sünden bestraft und für unseren Gehorsam belohnt werden. Ich werfe einen Blick zur Seite, merke aber schnell, dass alle anderen zu ihm nach vorn sehen. Ich spreche die Worte lautlos nach, fühle mich dabei aber zutiefst unwohl. Hingegen scheinen sich andere regelrecht in die Sache hineinzusteigern und brüllen die Antwortstrophen laut heraus.

Als Nächstes stimmt ein Zombie*, der in einer Nische sitzt, auf einem primitiven Musikapparat eine schwülstige Melodie an, und Fiore fordert uns auf, die vor uns liegenden Bücher (aus Papier!) auf einer bestimmten Seite aufzuschlagen. Die Leute beginnen, den dort abgedruckten Text zu singen und rhythmisch zu klatschen, und auch das ergibt keinen Sinn. Wiederholt taucht der Name »Christ« - eine Abkürzung für Christian? - auf, aber nicht in irgendeinem Zusammenhang, den ich verstehe. Und die Botschaft in diesem gemeinsamen Gesang ist eindeutig düster. Irgendwie geht es ständig nur um Unterwerfung, Konformität und Feedback-Schleifen der Belohnung. Es kommt mir so vor, als wäre tief in meinem Innern irgendein Reflex verwurzelt, der es mir verwehrt, Propaganda unkritisch in mir aufzunehmen. Schließlich lese ich nur noch in dem Buch und runzle die Stirn.

*Als Zombies werden künstliche geschaffene Wesen bezeichnet, die die Welt bevölkern, um kleinere Rollen zu übernehmen, vergleichbar mit NPCs in Computerspielen.

So oder ähnlich geht es in dem gesamten Roman zu. Ohne Rücksicht auf Verluste werden unsere Gesellschaft, unsere Gebräuche und unsere "Spielregeln" durch den Kakao gezogen und so ganz nebenbei erzählt Stross auch noch eine wirklich spannende Geschichte. Genau so geht gute Science Fiction. Wenn ich damit durch bin, muss ich unbedingt Accelerando noch mal lesen...