Heute habe ich zum ersten Mal seit langer Zeit vorsätzlich ferngesehen. Die ZDF-Sendung "Frontal 21" brachte einen Bericht über das Stuttgarter Wahnsinnsprojekt "Stuttgart 21", den ich mir nicht entgehen lassen wollte.
Falls jemand noch nicht weiß, um was es bei S21 geht: der Stuttgarter Hauptbahnhof soll komplett unter die Erde verlegt werden. Dabei werden die Gleise um 90° gedreht und die Anzahl der Bahnsteige von derzeit 16 auf 8 verringert. Die Bahn geht von einer Projektlaufzeit von 10 Jahren sowie Kosten von 4,1 Mrd Euro aus.
Der Bericht stand unter dem Motto "Milliardenloch im Schwabenland" und stützte sich auf einen Bericht des Bundesrechnungshofs der besagt, dass der Finanzierung des Projekts 1,2 Mrd Euro fehlen, sowie noch einmal 1,2 Mrd für den Neubau der Strecke Stuttgart Wendlingen - Ulm. Damit fehlen dem Projekt also insgesamt 2,4 Milliarden Euro! Für diese wird der Steuerzahler aufzukommen haben, die Reaktion unserer Geliebten Bundesregierung™ auf verkackte Großprojekte ist ja seit der Finanzkrise hinreichend bekannt.
Die Reporter fuhren also mit diesem Bericht nach Stuttgart, um die Verantwortlichen - Bahnchef Grube und OB Schuster - am Tag des inszenierten "Baubeginns" damit zu konfrontieren. Die Reaktionen sprachen Bände. Grube wurde sofort patzig ("wie kommen Sie dazu, mir zu unterstellen blabla"), hatte allerdings angeblich keine Kenntnis von dem Bericht. Wolfgang Schuster stammelte vor laufender Kamera herum, konnte sich an nichts erinnern und wies die Kenntnis des Bundesrechnungshofberichts ebenfalls weit von sich.
Noch drastischer wurde es mit dem Projektleiter Hany Azer, der schon für den Bau des Berliner Hauptbahnhofs verantwortlich war (ebenfalls ein Projekt, bei dem die Kosten förmlich explodiert sind). Er wurde gefragt, ob er sich für die von der Bahn veranschlagten Kosten von 4,1 Mrd Euro verbürgen könne. Da fing er doch glatt an zu faseln, dass das Wort "verbürgen" vielleicht "nicht so gut" sei!
Diese Heuchelei wird blitzartig verständlich, wenn man ein bisschen hinter die Kulissen schaut. Laut Frontal21 muss die Bahn an dem Projekt nämlich nur 1,1 Mrd Euro zahlen, bekommt aber aus vertraglich zugesicherten (!) Grundstückserlösen 1,4 Mrd Euro. Ein einträgliches Geschäft. Da ist es der Bahn natürlich piepe, dass Stuttgart für 10 Jahre im Baulärm und -dreck versinkt, dass es ein Verkehrschaos erster Kajüte geben wird, dass 250 uralte Bäume im angrenzenden Park gefällt werden, dass die Mineralquellen in Bad Cannstatt in ernster Gefahr sind, zu versiegen und dass zwischen 60 und 70% der Stuttgarter Bürger das Projekt entschieden ablehnen (einen kleinen Eindruck vom schwäbischen Widerstand bekommt man auf der Website Unsere-Stadt.org).
Ein pikantes Detail am Rande sind die Verflechtungen der hierzulande grassierenden Vetterleswirtschaft:
Um das umstrittene Projekt zu unterstützen, gründete sich ein so genannter Kommunikationsbeirat, ein Netzwerk aus Politik und Wirtschaft. In diesem Beirat sitzen unter anderem "Stuttgart 21"-"Botschafter" Wolfgang Drexler (SPD), Vizepräsident im baden-württembergischen Landtag, und Ex-Ministerpräsident Lothar Späth (CDU). Der ist heute Aufsichtsratschef beim Tunnelbohrmaschinen-Hersteller Herrenknecht. Das Unternehmen wiederum hat 70.000 Euro an die CDU gespendet und erhofft sich Aufträge durch "Stuttgart 21". Im Beirat ist auch Ex-Ministerpräsident Oettinger (CDU). Er hat kürzlich der Stuttgarter Immobilien-Größe Rudi Häussler das Bundesverdienstkreuz angeheftet. Auch Häussler sitzt im Beirat für "Stuttgart 21". Und bei Häussler war Bahnchef Rüdiger Grube vor Jahren geschäftsführender Gesellschafter.
Als der Grube neulich hier war, erdreistete er sich doch tatsächlich, auf der stattfindenen Demo das Mikro an sich zu reißen und den verdatterten Demonstranten zu erzählen, dass die Bahn wohl versäumt habe, ordentlich zu kommunizieren. Dazu kann ich nur sagen: ein verfilzter Kommunikationsbeirat, in dem sich alle Beteiligten gegenseitig die Kohle in den Hintern blasen, ist denkbar ungeeignet, positive Stimmung für euer Scheißprojekt zu machen.
Ein Transkript des Frontal21-Berichts ist bereits online verfügbar:
http://frontal21.zdf.de/ZDFde/inhalt/15/0,1872,8043183,00.html