"Kulturelle Aneignung"

Mittwoch, 8.6.2022, 16:27 > daMax

Ich muss jetzt mal was loswerden, wohl wissend, dass ich von dem ganzen Thema eigentlich überhaupt keine Ahnung habe, aber jetzt habe ich auch mal eine Meinung und Meinungen scheinen in manchen Kreisen deutlich wichtiger zu sein als Wissen und wozu habe ich überhaupt ein Blog, ne? Also.

Neulich wurde eine Künstlerin von einer kulturellen Veranstaltung ausgeladen. Weil sie Dreadlocks trägt. Und als weiße hetero Frau geht das ja mal gar nicht, denn das sei kulturelle Aneignung und bäh und überhaupt frisst sie sicher auch kleine Kinder. Oder so ähnlich. Der echte Hammer kam direkt hinterher: sie könne gerne kommen, wenn sie sich vorher die Haare abrasiere!

Damals hielt ich die Klappe, konnte mich eines mulmigen Bauchgefühls aber nicht erwehren.

Heute nun lese ich das Buch "Augenblick der Ewigkeit" von Bernhard Sinkel. Es geht darin um den fiktiven Dirigenten Karl Herzog, der im Laufe seines Lebens zu Weltruhm gelangt und auf dem Weg dorthin nicht drumherum kommt, sich den Nazis anzubiedern. Also den echten Nazis™, damals, vorm 2. Weltkrieg. Kurz vor einem entscheidenden Abend, an dem der (jüdische) Generalmusikdirektor von den Nazis aus der Oper vertrieben wird, spielt sich folgende Szene ab:

Er schlug den Mantelkragen hoch und stapfte durch den Neuschnee. Als er am Mendelssohn-Denkmal vorbeikam, blieb er stehen und schaute zu der drei Meter hohen Bronzefigur hoch [...]. Er hatte den einzigen Schüler Mozarts neben Cherubini stets um seine Eleganz und aristokratische Art beneidet und die Harmonie seiner Musik bewundert, die immerzu auch ein Glücksversprechen in sich barg.

Wie hatte der Festredner getönt? Mendelssohn sei ein Scharlatan und Hochstapler, ein Stümper, ein Fremdling und der Beweis dafür, daß das Judentum in der Musik zu einer erschreckenden Geschichte von Plagiat und geistiger Aneignung fremden Gedankenguts geworden sei, bar jeder eigenen Schöpfungskraft. Die wahre Seele seiner Musik sei, wie schon Richard Wagner sagte, nicht die eines anderen Charakters, sondern die einer anderen Rasse und habe nur das eine Ziel, die völkisch-kulturelle Basis mit dem semitischen Bazillus künstlerischer Impotenz zu verseuchen und damit die Lebenskraft des deutschen Volkes zu schwächen.

Hervorhebung von mir.

Bei der Lektüre dieser Absätze fiel mir die Szene um Frau Maltzahn wieder ein und BÄM! wurde mir klar, woher mein mulmiges Bauchgefühl eigentlich kam. Diese ganze Idee der kulturellen Aneignung ist in meinen Augen nämlich eine ziemlich faschistische. Obacht! Ich sage nicht, alle Sozialkrieger seien Nazis. Ich sage, dass mir die Idee einer wie auch immer gearteten "kulturellen Aneignung" zutiefst suspekt ist. Weil ich sie für faschistisch halte. Und ich erkläre euch auch gerne, warum.

In meinen Augen ist "Kultur" nichts anderes als ein endloser Remix, ein ununterbrochenes Wiederaufbereiten und Neuerfinden von schon mal dagewesenen Ideen, wenn man so will ein ständiger "geistiger Diebstahl" und der schlimmste Alptraum jedes Rechteverwerters und seiner weiblichen Pendants. Ich zum Beispiel höre ja gerne Heavy Metal. Den würde es ohne Rock'n'Roll wahrscheinlich nie gegeben haben und Rock'n'Roll hätte es nie gegeben, hätten nicht weiße priviligierte cis-Männer sich kackdreist beim schwarzen Blues bedient. Und da ist die Story nicht zuende, denn auch der Blues steht nur auf den Schultern von Riesen:

Er enthält Elemente afrikanischer, europäischer und karibischer Musik. Frühe Blues-Formen sind bereits in Vaudeville- und Minstrel-Shows des späten 19. Jahrhunderts dokumentiert.

Jo. So läuft das in der Kultur nun mal. Man nimmt, was man kennt, legt es neu auf, fügt was hinzu, lässt was weg und macht was Neues draus. Die Vorstellung, irgendwer könne aus dem Nichts heraus etwas vollständig Neues erschaffen, ist hanebüchener Unsinn. Und die Idee, dass man sich "unrechtmäßig" irgendwelche kulturellen Errungenschaften "aneignen" könne, halte ich persönlich für den größten Blödsinn seit plastikverpackten Bananen.

Das zum einen. Zum anderen steckt hinter der Idee der kulturellen Aneignung, dass es irgendwie getrennte Kulturen geben müsse. Die... ja was eigentlich? Die es rein zu halten gilt? Die nicht vermischt werden dürfen? Derer sich ein Mensch aus einem anderen Kulturkreis nicht bedienen darf? Weil.... weswegen doch gleich?

Sehen wir mal davon ab, dass sich auch die Nazis nur links und rechts bedient haben (woher kamen die Swastika, die Runen, die Totenkopfsymbolik und das ganze Brimborium um die arische Rasse gleich nochmal? Blond und blauäugig, dass ich nicht lache): die Idee von "reinen", "unschuldigen" oder wie auch immer gearteten Kulturen, die es zu bewahren gilt und die nur von Menschen desselben Kulturkreises verwendet werden dürfen, ist faschistoider Müll! Und einer Person anzuraten, sich die fucking Haare abzurasieren und schon sei sie wieder willkommen, ist Nazischeiße in Reinkultur, liebe Fridays for Future Pappnasen! Vielleicht war die Wehrpflicht doch gar keine so falsche Idee, denn damals™ wussten wir wenigstens noch, was wir da aus welchen Gründen verweigerten. Haareabrasieren zum Beispiel.

So. Das musste mal raus. Und jetzt ihr.

Nachtrag: in meinen dunklen Stunden beschlich mich schon der Gedanke, dass die ganze Klamotte nur eine Trollaktion identitärer Spacken war mit dem Ziel, Fridays for Future zu diskreditieren. Das wäre zumindest voll aufgegangen :-|