Update zu "Betrifft: Abkehr von der Wissenschaft"
Mittwoch, 6.7.2022, 20:13 > daMaxIch muss jetzt nochmal was zu diesem Blogpost nach schieben. Denn offenbar ist die Frau Vollbrecht, deren Vortag von der HU gecancelt wurde, selber nicht so sonderlich objektiv, sondern im Gegenteil in der Szene schon bekannt wie ein bunter Hund.
Nach der Lektüre dieses Interviews sehe ich mich leider gezwungen, meine Meinung ein bisschen zu revidieren und ich möchte euch bitten, euch das Interview zu Gemüte zu führen. Denn eventuell gehen wir im Moment den Rechten auf den Leim und das wäre ja doof.
Mit „Geschlecht ist nicht (Ge)schlecht, Sex, Gender und warum es in der Biologie zwei Geschlechter gibt“ ist der Vortrag überschrieben. Mit welchen Argumenten will Vollbrecht ihre These belegen?
Ich denke, es geht und ging in diesem Vortrag nicht um Argumente oder wissenschaftliche Thesen. Der Vortrag war und ist vielmehr Bestandteil einer regressiven Kommunikationsstrategie jener Akteur:innen, denen die (bis jetzt noch) bestehende Offenheit unserer Gesellschaft ein Dorn im Auge ist. Frau Vollbrecht, ihre Mitautor:innen des queer-feindlichen Gastbeitrags in der Springer-Zeitung Die Welt sowie deren „flying monkeys“ der sogenannten „Siff-Twitter-Bubble“ (Zusammenschluss aus Nutzern, die nur trollen und verbrannte Erde hinterlassen, K.T.) zielen darauf ab, trans* Menschen, Sexarbeiter:innen und Menschen mit Behinderung als „die anderen“, „die gefährlichen“, die „degenerierten“ zu labeln.
Erhellend finde ich auch die Kommentare darunter.
In dem Zusammenhang fand ich auch einen Beitrag ganz spannend, den ich am Wochenende im Saarländischen Rundfunk gesehen habe (glaube ich zumindest), in dem aufgezeigt wurde, dass es beim Menschen eben nicht so einfach ist mit 2 Geschlechtern und fertig. Da kamen bspw. Neurowissenschaftler:innen zu Wort, deren Experimente ziemlich deutlich aufzeigen, dass in den Gehirnen von trans Personen halt andere Dinge passieren als in reinen Männer- bzw- Frauengehirnen. Leider finde ich diese Sendung nicht mehr in der Mediathek.
Siehe auch: "Wie gut finden Sie Zwangssterilisierung?", eine Kolumne von Sascha Lobo.
Die gegenwärtigen Debatten in Deutschland sind in ähnlicher Weise seit Jahren in den USA im Gang, und es gibt eine erschreckende Erkenntnis aus dieser Parallelität: Transfeindlichkeit eignet sich als eine Art Hasskitt quer durch politische und gesellschaftliche Lager. Rechte Propaganda findet einfach deutlich mehr Zuspruch, wenn sie sich gegen Transpersonen und deren Bedürfnisse richtet.
(danke, yen-cee!)
Es gibt durchaus Gründe*, biologische Zweigeschlechtlichkeit als *richtiges* Modell anzusehen, nur sollte man dann nicht den Fehler begehen, das Modell (die Landkarte) mit der Landschaft zu verwechseln/in eins zu setzen.
[* z.B. wenn man (erfolgreiche) Fortpflanzung als vorrangig in der Kategorisierung ansieht]
Wenn man das mit dem Geschlecht eher als Spektrum betrachtet, kommt man der Realität näher, erhöht dann aber freilich die Komplexität und damit muß man erstmal klarkommen.
Ergänzend zu obig Verlinktem noch ein Artikel von R. Sapolsky, einem (Neuro-)Biologisten, der mir eher unverdächtig scheint, irgendeinem ideologischen Zeitgeist zu folgen.
(ps: Guter Text vom Lobo.)
Morgen gibt's dazu von der Hochschule Merseburg einen Beitrag von Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß, der sich schon seit 15-20 Jahren wissenschaftlich mit den Überlappungen von gender, sex und Sexualität auseinandersetzt. Also jemand bei dem sich das zuhören lohnt
https://www.hs-merseburg.de/hochschule/information/veranstaltungen/details/veranstaltung/die-vielen-geschlechter-der-biologie-vortrag-und-diskussion-zur-debatte-an-der-humboldt-universitae/
@Stony: Realität und Wahrnehmung sind für jeden verschieden. In dem Schaubild finde ich das mit den Chromosomen auf jeden Fall wissenschaftlich. Und die Darstellung mit den Hormonen auch noch! Aber das Problem ist doch heute das sich die Leute heute bei Bedarf einfach mit Hormonen behandeln lassen und sich damit dann die Dinge selbst "zurechtbiegen" - und das ist dann keine Wissenschaft mehr sondern willkürliches Genderdesigning (um es mal so zu sagen).
Zum eigentlichen Thema: Das Problem um das es hier geht ist doch überhaupt nicht wer Recht hat oder wer Falsch liegt. Vielmehr geht es doch darum, dass es anscheinend keinen Platz mehr für bestimmte Meinungen im öffentlichen Raum gibt oder geben soll und hier an einer Universität ein wissenschaftlicher Diskurs nicht mehr möglich ist, weil eine kleine radikale Minderheit mit einem Shitstorm droht. Und das obwohl gerade in der Wissenschaft solche offenen und freien Diskussionen, Foren, Podien und Meinungsaustausche eigentlich für jede Analyse, jede Falsifizierung und den Erkenntnisgewinn basisrelante und unabdingbare Dinge sind!
Ich finde wenn andere wissenschaftliche Ansichten, Meinungen, Standpunkte scheinbar aus nur rein idiologischen Gesichtspunkten bekämpft, unterdrückt und damit verdrängt werden, dann haben wir wirklich ein echtes Problem in unserer Gesellschaft! Und das an einer Universität, die von öffentlichen Geldern lebt.
@Abbieger: hm... ich weiß nicht.
Nach dem oben verlinkten Interview sehe ich das nicht mehr so. Mir scheint vielmehr, dass die Rechte sich nach und nach wieder die Deutungshoheit über "Normalität" aneignen will und alles, was nicht in ihre betonschädelig-muffige Weltsicht passt, soll - jetzt "wissenschaftlich fundiert" - diskreditiert werden. In dem Vortrag von Frau Vollbrecht ging es anscheinend um Seeanemonen. Von diesen auf den Menschen zu schließen, ist jetzt auch nicht gerade topwissenschaftlich. Die Rechte versucht halt, mit allen Mitteln einen Fuß in alle Diskussionen zu bekommen ("das wird man ja wohl noch mal sagen dürfen"), um der Gesellschaft ihr rückwärtsgewandtes Weltbild aufzuzwingen.
Und ich Depp fall' auch noch voll drauf rein, das ärgert mich am meisten. Ich weiß nicht, wo du verortet bist, aber ich kann jedem und jeder nur das Alt-Right Playbook ans Herz legen, um zu erkennen, woher der Wind weht. Umso mehr ärgert es mich, dass ich Frau Vollbrecht auf den Leim gegangen bin, denn ich sollte es eigentlich besser gewusst haben.
PS: Die Diskussion an der Hochschule Merseburg werde ich mir jetzt mal in Ruhe zu Gemüte führen, die fängt schon mal mit der Aussage an, dass es auch rein biologisch gesehen mehr als 2 Geschlechter gibt, womit Frau Vollbrecht gleich mal diametral widersprochen wird.
Der Doktorvater von Frau Vollbrecht hält das Ganze für ein sprachliches Problem, und ist mit der Absage des Vortrags einverstanden:
HU-Biologe: „Der Streit um Zweigeschlechtlichkeit ist so unnötig wie ein Kropf“
@tenebra: hm. Ich weiß nicht. Er sagt immer noch "gibt nur 2 Sexes, der Rest ist Gender". Der Voß sagt in seinem Vortrag was anderes, nämlich dass es alle möglichen Zwischwenstadien gibt und dass man das anerkennen sollte. In dem Chat zu dem Vortrag macht sich Antje Galuschka die gesamte Zeit zum Hirsch und hält sich dabei an Krahes Argumentation auf eine Art und Weise, die mir die gesamte Position eher zuwider macht. Ich glaube, ich bin Team Diversity
@Abbieger: Wieso weshalb warum ist das von Dir dargestellte Problem ein solches? Wieviele Menschen biegen sich da was zurecht und wie leicht geht das? Ernsthaft: Wird die Menschheit sich selbst ausrotten, weil es welche gibt, die sich mit Hormonen behandeln und an sich rumschnippeln lassen? Was da willkürlich sein soll, kann ich ebensowenig sehen.
Nächster Absatz: Die Lange Nacht der Wissenschaft ist (imho) eher eine nette Einführung diverser Fachbereiche für interessierte Fachfremde, sprich Lieschen Müller und Karl Schmidt nebst Entourage. Wissenschaftlicher Diskurs findet anderweitig statt. Vorträge in dem Rahmen sind notwendig vereinfachend, sollten aber freilich nicht grob falsch sein und genau das ist/war (wieder imho) das Problem von Frau Vollbrechts Beitrag. Sie hat als Fachfremde (als angehende Meeresbiologin ist sie weder Spezialistin für Humanes noch Evolutionsbiologie) mittels ausgewählter (selektiver) Beispiele aus ihrer Domäne, die zudem grob vereinfachend bis schlicht falsch dargestellt wurden - soweit ich dem vertrauen darf, was ich dazu an Kritik gelesen habe -, Rückschlüsse auf die menschliche Biologie gezogen und eine mittlerweile als veraltet geltende Sichtweise als so isses und mehr braucht es nicht hingestellt. Was in einem fachspezifischen Diskurs kein Problem gewesen wäre, also nicht generell, nur für sie halt, unter Umständen.
Das so Dargestellte ist aber Basis für weit mehr und das betrifft eine nicht gerade geringe Menge an Menschen, insbesondere darin, wie mit diesen umgegangen wird, was sie im Zweifel zu erdulden haben.
Ein Beispiel: Erfreulicherweise wurde letztes Jahr eine Änderung eingeführt, wonach die Einordnung von (biologischem) Geschlecht bei Säuglingen (bislang hauptsächlich nach Augenschein vorgenommen) und gegebenenfalls chirurgische Angleichung an einen der beiden Pole (männlich/weiblich) - immerhin ca. 1% der Geburten - nun nicht mehr so einfach und irreversibel (schnippschnapp) vorgenommen werden dürfen. Das war ein echtes Problem (imho, immer wieder imho).
Zu verantwortungvoller Wissenschaft (imho, again) gehört es auch, die Grenzen der eigenen Zunft zu reflektieren und zu kommunizieren und gegebenenfalls Vereinnahmungen durch interessierte Kreise abzulehnen/wehren. Bißchen Wissenschaftstheorie schadet auch nie/nicht.