Es ist euch vielleicht hin und wieder aufgefallen: ich habe ein neues Feindbild: den Jürgen. Eigentlich handelt es sich um ein sehr altes Feindbild, für das ich jedoch bisher noch keinen griffigen Namen hatte. Bürotrottel und Businesskasper haben mir einfach zu viele Silben. Da kam mir Jürgen gerade recht.
Kennen gelernt habe ich Jürgen neulich auf einer Party. Auf dieser Party waren hauptsächlich nette Leute, jede Menge Parkschützer und S21-Gegner. Als sich Jürgen mir gegenüber setzte, hätte ich von seinem Äußeren schon gewarnt sein sollen: gegelte Haare, Jackett, fette Uhr, randlose Brille. Ich ahnte jedoch nichts Böses sondern fragte arglos drauf los "na? Auch schon bei den Parkschützern eingetragen?" woraufhin er meinte "nee, wieso sollte ich das auch tun? Ich finde Stuttgart21 eigentlich eher gut". Das war der Einstieg in eine Debatte, die recht schnell einen fatalen Verlauf nahm. Wir sprachen über Architektur und Umwelt, Demokratie und Gesellschaft, Wirtschaft und Geld. Jürgen nahm die Position des Jung-Liberalen-INSM-Verfechters ein, voll zufrieden mit den gegenwärtigen Zuständen; ich folgte meinem Herzen.
Nach 15 Minuten hatte ich Jürgen soweit dass er zu mir sagte:
Es zwingt Dich ja keiner zu arbeiten! Du kannst ja einfach einen auf Hartz IV machen!
Das war der Moment, als ich das erste Mal meinte "Vorsicht mein Lieber, Du bewegst Dich auf dünnem Eis". Wir quasselten also weiter über soziale Ungerechtigkeiten, Lohnsklaverei, Einkommensgefälle und Abstiegsangst. Nach weiteren 10 Minuten meint er:
Hey, wenn's Dir hier nicht gefällt, dann geh doch nach Afrika!
Woraufhin ich konterte mit "komm, sprich's aus: zu den Kuffnucken. Das meinst Du doch. Aber dann zieh Du auch nach Amerika, wo Deine neoliberale Scheißphilosophie herkommt". Da antwortet er mir doch glatt:
"Nee also Amerika ist mir dann ja doch zu krass"
Und dann bin ich explodiert.
Liebe Namensvettern von Jürgen: ich habe überhaupt nichts gegen euch. Wenn ich also sage "welcher Jürgen hat sich das wieder einfallen lassen", oder "die Jürgens dieser Welt sind gnadenlos", dann meine ich damit die Bürotrottel und Businesskasper, die sich mit den herrschenden Verhältnissen prima eingerichtet haben, Ungerechtigkeiten als notwendiges Übel einer "freien" Gesellschaft ansehen und nicht bereit sind, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen.
Ich hoffe, die Erklärung geht in Ordnung so.
(bild: thomas hawk [CC BY-NC])