Harald Martensteins Gute-Nacht-Geschichte fürs Volk

Freitag, 9.8.2013, 15:00 > daMax

Harald Martenstein versucht sich in seiner ZEIT-Kolumne an der Antwort auf eine der Fragen, die auch mich seit geraumer Zeit umtreiben, nämlich »WIESO SCHREIT DENN HIER KEINER?!?!?!!1!«:

Erstens kann man sich nicht unbegrenzt oft aufregen. Alle Medien sollten berücksichtigen, dass zwischen zwei Skandalen eine Karenzzeit von mehreren Monaten liegen muss und dass kein Mensch unbegrenzt viele Skandale gleichzeitig verarbeiten kann. Unser Gehirn ist dafür nicht ausgelegt.

Als geübter Verschwörungstheoretiker lese ich da zwischen den Zeilen natürlich sofort den eigentlichen Masterplan heraus: wir werden bewusst so lange und anhaltend mit Skandalen zugeschissen bis wir resigniert die Flinte ins Korn werfen. Und wenn ich mich mal kurz vollständig der Paranoia hingebe, könnte ich darüberhinaus zu der Ansicht gelangen, Harald Martenstein sei selbst ein Agent dieses Plans. Denn anstatt gegen den beständigen Phlegmatismus ins Feld zu ziehen gibt er dem Leser im Gegenteil auch noch auf höchst versöhnliche Weise das Gefühl, nichts zu tun sei schon okay. Schließlich können wir nichts dafür, unser Gehirn ist überfordert (allgemeiner ging's nimmer?), so kann man halt nicht wütend werden und ach ja was soll man machen ist doch alles hoffnungslos bleiben Sie zu Hause keep calm and carry on.

Doch genug von meiner Paranoia, weiter im Text. Neben dem spamartigen Überaufkommen von Skandalen hat Harald Martenstein nämlich noch ein zweites Übel identifiziert, das den deutschen Aufstand angesichts einer offenkundigen Abschaffung des Rechtsstaats verhindert:

Zweitens muss es sich personalisieren lassen. Wenn der italienische Kapitän Schettino alle deutschen E-Mails lesen würde, dann ginge es gleich ganz anders ab. Es muss auch Fotos geben. Ich denke mal, ein Bild, auf dem Barack Obama beim Betrachten der privaten Facebook-Seite einer Claudia Schmitt, 44, Berufsschullehrerin aus Höxter, zu sehen ist, würde vieles ändern.

Na dann: Barack Obama Looking At Claudia Schmitt, 44, Höxter

Leider passt auch diese »Erkenntnis« prima in meine Wahnvorstellung vom bezahlten Schreiberling, der uns alle schlafend halten soll. Was wäre besser geeignet, die gerechtfertigte Auflehnung gegen offenkundigen Rechtsbruch abzuwiegeln, als den Leser zunächst mit einem halbwegs plausiblen Argument für sich zu gewinnen, um die Diskussion anschließend mit Witzchen zu verharmlosen? Den Margot-Käßmann-Kalauer habe ich dabei aus Respekt vor der Frau schon unter den Tisch fallen gelassen. Aber dass er sich dann auch noch über Jakob Augstein lustig macht, nur weil der sich »seit 6 Wochen« an dem NSA-Ding abarbeitet, war mir dann einfach zu viel.

Klar: es ist sein Job als Autor eben jener Kolumne, lustig und abgeklärt über jedes Thema der Welt parlieren zu können. Ich meine zwar, zwischen den Zeilen eine gewisse Unzufriedenheit mit der Trägheit der Masse zu spüren, aber da kann ich mich auch täuschen, vielleicht hat er sich ja mit dem Lauf der Dinge arrangiert. Einen feurigen Aufruf, aus dem Koma auszubrechen, schreibt er jedenfalls nicht, statt dessen witzelt er über ein Thema, das mir in seiner Tragweite dann doch eher späßchenungeeignet erscheint. Was wir zur Zeit erleben ist nichts Geringeres als die planmäßige Abarbeitung eines 10-Punkte-Programms zur Abschaffung der Demokratie. 5 der Punkte haben wir inzwischen locker abgehakt, die Amis und Engländer sind längst bei Punkt 7 oder 8 angekommen. Ich sage es nochmal: Auf die Straße mit euch! 7.9., 13:00, Berlin, Potsdamer Platz.

Martenstein liegt mit der Aussage, dass die Menschen einen persönlichen Aufhänger für einen Aufstand brauchen, ja nicht mal gänzlich verkehrt. Stuttgart21, Gezi-Park, Ägypten, immer wieder gab es einen lokalen Funken, der das Pulverfass detonieren ließ. Gegen den generellen Filz in der Politik wäre kein einziger braver Schwabe zum Wutbürger mutiert, gewisse Blogautoren eingeschlossen. Als es aber plötzlich um meinen Park ging, mit meiner Frisbeewiese und meinem Biergarten, da packte mich der Zorn. Und 100.000 andere eben auch. Die Unruhen in der Türkei gingen auch von einem lokalen Ding ausm, waren aber keinesfalls nur auf Istanbul beschränkt. Aber nur darauf zu warten, kann's ja auch nicht wirklich sein!

Ja, Herr Martenstein, wir werden zugeballert mit Skandalen und ja, es ist alles so furchtbar abstrakt für Lieschen Müller. Aber dieses eine Mal ist das Thema - wie ich finde - zu wichtig, um darüber platte Witzchen zu reißen. Statt dessen ist es an der Zeit, das bequeme Kolumnenplätchzen mal dazu zu nutzen, den Leuten zu erklären, was auf dem Spiel steht anstatt Verständnis für den Phlegmatismus zu zeigen. Man könnte den Leuten persönliche Aufhänger für gerechten Zorn zu liefern anstatt deren Fehlen zu bemängeln. Sonst muss man sich eines Tages vielleicht die Frage gefallen lassen: »Was genau haben Sie denn dagegen unternommen?«

Gefolgt von: »Und warum nicht?«

PS: ja, ich habe das 2. Zitat geändert. Eigentlich hieß es "Frau Schmidt", aber das fiel mir erst auf, nachdem ich das Ding schon zusammengepixelt hatte, und ich wollte nicht nochmal von Vorne anfangen. Bloggen unter Zeitdruck.