Offener Brief von Walter Sittler
Freitag, 23.7.2010, 06:52 > daMaxAn: Herrn Ministerpräsidenten Stefan Mappus
Herrn Oberbürgermeister Dr. Wolfgang Schuster
Stuttgart, den 18.7.2010
Betr.: Offener Brief zu S21.
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
letzte Woche hat der Projektleiter von S21 angekündigt, mit dem Abriss des nördlichen Seitenflügels des Stuttgarter Hauptbahnhofes bereits im August beginnen zu wollen, um den Zeitplan bis Ende November diesen Jahres einzuhalten. Der ursprüngliche Zeitplan hatte das so nie vorgesehen. Warum die plötzliche Eile?
Spätestens seit den geplatzten Ausschreibungen für den Nesenbachdüker und das Grundwassermanagement ist dieser Zeitplan ohnehin Makulatur, alles hinkt jetzt schon knapp ein Jahr hinterher. Es ist, als wolle man schon mal Benzin in den Tank füllen, obwohl die Räder des zu fahrenden Autos noch nicht produziert sind. Will man hier Fakten schaffen, um die angebliche Unumkehrbarkeit dieses Projekt zu demonstrieren? Will man Handlungsfähigkeit, Durchsetzungsvermögen und Stärke um jeden Preis zeigen? Und wenn ja, warum? Nur Zerstörung und Tod sind unumkehrbar; alle menschlichen Pläne können geändert, verbessert oder verworfen werden.
Dieses Projekt steckte schon vor dem Baubeginn (der sogenannten Prellbockanhebung im Februar 2010) voller nicht erfüllbarer Versprechungen, Drohgebärden, Halb- und Viertelwahrheiten, z.B. über die wahren Kosten, das tatsächliche zeitliche Ausmaß der künftigen Baustelle. Die besten Fachleute der Welt stellen der Leistungsfähigkeit des künftigen Bahnhofs von S21 ein so schlechtes Zeugnis aus, dass das alleine schon ein Grund zum Nachdenken wäre. So aber wird der Bericht geheim gehalten und zudem als veraltet bezeichnet ? Warum geheim, wenn er veraltet ist?
Den Menschen, die Widerstand gegen S21 leisten, wird vorgeworfen, sie seien ein kleine Gruppe Protestler, Nörgler, Ewiggestrige. Sie irren sich, wir sind viele, aus allen Schichten der Bevölkerung und aus allen Stadtteilen. Wir machen uns Sorgen um die Zukunft, Sorgen um unsere Stadt, der ein Herzinfarkt verpasst werden soll. Der Mensch und die Zukunft sind weiche, verletzliche Güter und die wollen wir schützen! Wir wollen nicht die Zukunft zubetonieren und unseren Kindern, durch ein Wahnsinnsprojekt, ein fiskalisches Korsett hinterlassen, das mehr an ein Gefängnis erinnert, denn an die Freiheit, die wir alle wollen und für die wir leben.
Dieses Projekt ist ein finanzielles Fass ohne Boden, das wissen Sie so gut wie wir, der Nutzen gering und die Zerstörungen immens. Nicht nur ein weltweit bekanntes Kultur- und Technikdenkmal wird ohne Not geopfert, auch die demokratische Kultur nimmt Schaden, wenn Sie viele Ihrer Bürgerinnen und Bürger als unbequeme Querköpfe behandeln, die ohne viel Federlesens zur Ruhe gebracht werden sollen. Ein untrügliches Zeichen für Demokratie ist nicht Friedhofsruhe, sondern Bewegung und Unruhe.
Sie verlieren Ihr Gesicht nicht, wenn sie eine falsche Entscheidung, auch wenn sie anfänglich richtig schien, korrigieren, sie gewinnen das Vertrauen und das Zutrauen Ihrer Bürgerinnen und Bürger, das Ihnen jetzt droht verloren zu gehen. Ohne dieses Vertrauen aber ist Ihre politische Legitimation dahin, egal ob sie als gewählter Oberbürgermeister im Rathaus sitzen oder als Ministerpräsident noch eine Mehrheit im Landtag haben.
Daher bitten wir Sie, nein, wir fordern Sie auf, ein Moratorium über S21 zu verhängen. Nehmen Sie den Druck raus, der jetzt nur noch künstlich aufrechterhalten wird, geben Sie Zeit zum Nachdenken. Auch wenn S21 nicht gebaut wird, gibt es viel zu tun. Die vernachlässigte Renovierung des Hauptbahnhofs und des Gleisvorfelds muss gemacht werden, ein Vorhaben mit großen, aber überschaubaren Kosten. Die Alternativen zur Anbindung an die vielleicht in ferner Zukunft fertig gestellte neue Bahntrasse nach Ulm - auch hier laufen die Kosten davon, müssen geprüft und geplant werden. Alternativen, die auch bei Ihnen zweifelsohne in den Schubladen liegen. Alles das ist sinnvoll, vor allem aber einigermaßen überschaubar, mach- und vermittelbar. S21 ist das alles nicht.
Die überstürzten Entscheidungen der letzten Tage haben uns bewogen dieses Schreiben als offenen Brief zu konzipieren. Wir haben Stuttgart in den letzten 20 Jahren schätzen und lieben gelernt. Manchmal ist uns jetzt nach Davonlaufen zumute, nachdem der Gestaltungswille und die Mitsprache so vieler Bürger, trotz gegenteiliger Beteuerungen, so offensichtlich unerwünscht ist.
Hochachtungsvoll
Walter Sittler
Sigrid Klausmann-Sittler
Sehr geehrter Herr Sittler,
es ist jetzt kurz nach 22 Uhr am 9.9.2010. Die TV-Sendung im dritten Programm über Stuttgart21 ist gerade zu Ende gegangen.
Sie wurden zum Schluß der Sendung gefragt, wie Sie den Verlust in zweistelliger Millionenhöhe eines Stuttgarter Investors bewerten würden, sollte S21 nicht wie geplant stattfinden. Sie haben die Frage des Moderators damit beantwortet, dass sich dieser Investor dann schlicht verzockt hätte.
Glücklicherweise hat Ihnen die anwesende Landesministerin für Verkehr darauf direkt in sehr eindeutiger und sachlich völlig richtiger Weise geantwortet und ich muss sagen, dass mir spätestens jetzt der absurde Geist Ihrer Argumentation und damit vielleicht sogar der ganzen Gegenerschaft für S21 klar geworden ist.
Ich bin vor 46 Jahren in dieser Stadt geboren worden, lebe in Stuttgart und würde mich als engagierter Lokalpatriot bezeichnen. Nach dieser Äußerung von Ihnen wird mir klar, dass es längst nicht mehr nur um dieses Bahnprojekt geht.
Ich kann nur hoffen, dass durch Ihre Äußerungen in der heutigen TV-Sendungen, nun all diejenigen endgültig aufgewacht sind, die von kaufmännischen und betriebswirtschaftlichen Zusammenhängen und den damit verbundenen volkwirtschaftlichen Auswirklungen etwas verstehen - das meine ich im besten Sinne - und sich nun auch hoffentlich mit ganzer Macht gegen die Projektgegner stellen werden! Bei mir haben Sie diesen Reflex heute zu 100% ausgelöst! Das ist ein Versprechen!
Mit freundlichen Grüßen
Markus Bach
@Markus Bach: Also ich fürchte, hier in diesem Blog wird Herr Sittler Ihre Antwort nie zu sehen bekommen... es wundert mich auch, wieso Sie ausgerechnet hier eine solche Antwort unterbringen, meine Meinung zu BWL-Bürotrotteln sollte hoffentlich in meinen sonstigen Posts klar zu Geltung kommen.
Ich sehe das ganz genau wie Herr Sittler: wer zockt, riskiert Verluste. Ich weiß nicht, warum Sie sich da jetzt so darüber aufregen. Ich habe auch schon (zu) viel Geld verzockt, weil mir irgendwelche Bank-Fuzzis irgendwelchen Stuss von Renditen und Fonds und Furz und Feuerstein erzählt haben. Geld futsch, na und?
Sie haben allerdings Recht mit der Auffassung, dass es bei diesem Protest um wesentlich mehr geht als nur um ein reines Bauprojekt. Wird Ihnen das wirklich erst jetzt bewusst? Die Menschen hierzulande sind es satt, dauernd irgendwelche geleckten Anzugtypen zu sehen, die mit aalglattem Lächeln das sauer verdiente Brot eines ganzen Volkes verzocken. Und diese ganzen Typen wie Mappus und Öttinger und Schuster und Co. sind genau der Typ, der den Zorn der Leute erregt. So entzündet sich die aufgestaute Wut nun eben an diesem lächerlichen Projekt. Das ist doch nun wirklich nicht allzu schwer zu durchschauen, oder?
PS: wer Verluste in 2-stelliger Millionenhöhe riskiert, hat sicher das Doppelte noch in der Hinterhand, sonst wäre er ein lausiger Pokerspieler. Machen Sie sich um den mal keine Sorgen.
USA über alles.
@Borna F. Braybrook: äh... bitte wie meinen? Den Zusammenhang kapier ich jetzt gerade nicht.
Eine Frage an Herrn Markus Bach:
Ist dieser Investor zufällig ein CDU-Landes/Kommunalpolitiker
oder ein Amigo?
Gerrhard